Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?
24.09.2025 Musik/KulturIn der Baarer Rathus-Schüür liest der berühmte Schauspieler, Autor und Mundart-Lyriker Hanspeter Müller-Drossaart, in Begleitung des Akkordeonisten Fränggi Gehrig, aus seiner Kolumnensammlung «Als Bernadette Kiser die steile Holztreppe in den oberen Stock hinaufstieg».
DANIELA GERER
«Eine Stunde Unterhaltung, dann bringt uns der Bus zurück ins Heim», so setzt Müller-Drossaart den selbstironischen Grundton für einen Abend, der sich als humorvolle, aber abgründige Reise entlang der Widersprüche menschlicher Existenz entpuppt. Die Kolumnen, die der Schauspieler in seiner unnachahmlichen Art mit pointierten Dialekt-Einsprengseln vorträgt, stammen ursprünglich aus Auftragsarbeiten für Kurt Aeschbachers Magazin «50plus». Für jedes Kapitel hat Müller-Drossaart übergrosse Bildtafeln mit Fotografien von Alltagsfunden vorbereitet, zu denen die assoziativen Texte entstanden sind. «Eine PowerPoint-Präsentation in ältester Form», wie er es nennt, bei der er «tatsächlich zwischen den Texten aufstehen und umblättern» werde.
Dann ertönen Fränggi Gehrigs erste nachdenkliche Klänge am Akkordeon. Der Andermatter wird den ganzen Abend über Improvisationen voller Dissonanzen zwischen bezauberndwehmütige Melodien beisteuern, während der «Geschichtenerfinder» sein «Fantasiekarussell» in Gang setzt.
Der Verlust der Unschuld
Gleich zu Beginn offenbart der Icherzähler sein literarisches Verfahren: In «Die Winterbrille» kommentiert eine «bei einer Waldfeuerstelle» aufgehängte Brille mit mildem Spott die Schreibkrise ihres Trägers. Doch bereits nach wenigen Zeilen bleibt dem Publikum das Lachen im Hals stecken. Menschliche Präsenz in all ihrer Widersprüchlichkeit bricht in die Waldruhe ein. Der «Dichter» hat dank der «Klarsicht-Fee» seine Geschichte: «Jetzt bleibt er stehen und holt sein Notizbüchlein hervor.»
Diese Szene etabliert den Verlust der Unschuld als zentrales Thema des Abends. Es geht um jene Grunderfahrung menschlicher Existenz, die sich in der Nostalgie nach einem Zeit-Ort manifestiert, den es so vielleicht nie gab.
Die Titelgeschichte «Kienspan» führt das Schweizer Bauernleben im 17. Jahrhundert in all seiner Härte vor: den «dünnen Eichelkaffee», die «dürftige Heiligabendfreude», die abergläubische Angst vor den Raunächten. Eingerahmt wird die volkstümliche, fast mythische Schilderung von einem zeitgenössischen Kurz-Porträt der Museumsleiterin Bernadette, welches verdeutlicht: die untergegangene Welt existiert nur als konservierte Erinnerung, der «Geruch von kaltem Rauch» ist alles, was dem Heimat-Flaneur bleibt.
Doch wo der passive Betrachter nur nostalgische Wehmut fühlen kann, entdeckt der Schriftsteller eine schöpferische Möglichkeit. In «Das Tropfende Licht» kehrt der Ich-Erzähler als zahlender Gast in eine ästhetisierte Version seiner provinziellen Herkunft zurück. Eine «bäuerliche Lampe» wird zum unwillkürlichen Auslöser von Kindheitserinnerungen. Die Vergegenwärtigung der verlorenen Welt wird in dem Moment produktiv, in dem der Erzähler beginnt, diese Gleichzeitigkeit literarisch zu verwandeln.
Die Schweiz als Filmkulisse
Müller-Drossaart scheint zwischen verschiedenen Formen des Umgangs mit Vergangenheit zu unterscheiden. Als Schauspieler, der die grosse Welt des Burgtheaters und der Fernsehstudios bespielt hat, ist der 70-Jährige natürlich «der kindlichen Magie längst entwachsen». Er kennt die Macht der Simulation und findet sie in der heutigen Schweiz der Kulissenbergwelt wieder. In «Der Page» führt der Erzähler das Publikum zunächst in die Belle Époque der Grand Hotels, doch dann die Wendung: In Wahrheit beschreibt er das Set des SRF-Spielfilms «Davos 1917» auf der Schatzalp. Was das Publikum für authentische Vergangenheit hielt, entpuppt sich als Inszenierung der Kulturindustrie. Müller-Drossaart lenkt den Blick des Publikums auf die verschiedenen Lichtquellen im Foto: das natürliche Licht der aufgehenden Sonne, das künstliche Belle-Époque-Licht der Filmkulisse und das moderne Hotellicht. Diese Überlagerung verschiedener Kontextebenen wahrzunehmen und zu reflektieren könnte ein Korrektiv zur simplen Nostalgie der «Flachländer» und «Kulturtouristen» darstellen.
Der dritte Weg
Damit deutet sich eine grundsätzlichere literarische Herausforderung an. In einer Epoche, in der kulturelle Identitäten im Kontext ökonomischer Realitäten zunehmend konstruiert scheinen, stellt sich Schweizer Autoren und Autorinnen die Frage: Wie schreibt man über Heimat, ohne in naive Bergyidyllsentimentalität zu verfallen? Wie vermeidet man andererseits distanzierende ironische Kälte?
Müller-Drossaarts Werk sucht nach einem dritten Weg. Seine intermediale Methode – die Verbindung von Fotografie und assoziativer Prosa – erinnert dabei an W.G. Sebald, den Meister der melancholischen Erinnerungsarbeit, der aus der Position eines Emigranten über verlorene Welten schrieb.
Abgründe im Heiteren
Die literarisch stärksten Passagen des Abends entstehen, wenn die heitere Oberfläche plötzlich aufreisst und sich schwindelerregende Abgründe auftun. Diese unerwarteten Wendungen enthüllen Widersprüche, die zu jeder Zeit existiert haben: Das Paradies war nie harmonisch und die Heimat nie unschuldig, aber die Sehnsucht danach bleibt urmenschlich.
Müller-Drossaarts Antwort auf den «Verlust der Unschuld» könnte schlussendlich in einer dreifachen Geste liegen: die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Wahrheiten anzunehmen, der absurden Existenz durch intensive Aufmerksamkeit für das scheinbar Bedeutungslose zu begegnen und das Ganze mit jener Prise Humor zu durchsetzen, die das Schwere erträglich macht.
Und so endet der Abend folgerichtig: Auf einen letzten dissonanten Akkordeonakkord hin gibt Müller-Drossaart als Zugabe noch eine grotesk-witzige Episode über ein Huhn in der Identitätskrise zum Besten, bevor er das «wunderbaare», hochzufriedene Publikum zum «Bus ins Heim» entlässt – vielleicht mit der Erkenntnis, dass unsere Sehnsucht interessanter sein könnte als ihr Gegenstand.